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„Wer das gesehen hat, der muss uns Deutsche doch eigentlich auf Ewigkeit hassen.“

Stefan Willms ist Ermittler beim LKA in Düsseldorf und arbeitet in der Ermittlungsgruppe nationalsozialistische Gewaltverbrechen. Wenn er eine Ermittlungsakte der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen erhält, beginnt seine Arbeit. Aktuell recherchiert er viele Verfahren im Zusammenhang mit Konzentrationslagern.

Die Interview-Fragen stellte Friederike Frücht.

Herr Willms, Ihre Abteilung beim Landeskriminalamt (LKA) in Düsseldorf heißt „Ermittlungsgruppe nationalsozialistische Gewaltverbrechen“. Gibt es solche Abteilungen auch noch in anderen Bundesländern?

Stefan Willms: In der Abteilung 6 des LKAs gibt es ein Dezernat 61, das ist zuständig für politisch motivierte Kriminalität rechts, und in diesem Dezernat ist unsere Ermittlungsgruppe in dem Bereich Ermittlungskommissionen angesiedelt. Aber die heißt richtig EG NSG, „Ermittlungsgruppe nationalsozialistische Gewaltverbrechen“. Und es gibt aktuell nur eine solche Gruppe im gesamten Bundesgebiet, und das ist unsere.

Seit wann gibt es Ihre Ermittlungsgruppe?

Stefan Willms: Die Ermittlungsgruppe ist 2005 eingerichtet worden. Ermittlungsverfahren in dem Deliktfeld werden hier aber schon seit den 1960er-Jahren bearbeitet. Irgendwann ist die Menge der Verfahren abgeflaut. Als ich zum LKA kam, da sagte man schon immer: Und wenn die drei Kollegen einmal pensioniert sind, dann wird sich vermutlich die Verfahrensbearbeitung erledigt haben. Die drei sind mittlerweile fast 20 Jahre pensioniert, und wir arbeiten immer noch daran.

Und es wird auch noch weitergehen, wenn Sie bald pensioniert werden?

Stefan Willms: Ja, die Arbeit wird weitergehen. Die Gruppe wird auch weiter bestehen bleiben. Theoretisch ist es ja immer noch möglich, dass es auch noch Verfahren gibt. Aktuell ist ja auch beispielsweise in Hamburg vor dem Landgericht ein Verfahren gegen einen ehemaligen Wachmann vom Konzentrationslager in Stutthof anhängig. Da haben wir viel zu den Ermittlungen beigetragen. Und in Wuppertal liegt ein Verfahren zur Anklage, das hier betrieben worden ist. Aktuell bearbeiten wir auch noch um die zehn Verfahren.

Wie können wir uns Ihre Arbeit konkret vorstellen? Wie gehen Sie vor?

Stefan Willms: Das ist unterschiedlich. Im Grunde genommen arbeiten wir, wie jeder Ermittler arbeitet. Wir nutzen die Klaviatur der Strafprozessordnung an Maßnahmen, die uns zur Verfügung stehen. Vielleicht ist es bei uns noch ein bisschen mehr so ein Puzzlespiel. Der Ermittler hat ein Puzzlespiel, das fügt er zusammen. Unser Puzzle ist dabei ein besonderes. Es ist nicht so, dass man den Karton aufmacht und alle Puzzleteile sind da enthalten. Man muss die einzelnen Teile erst mal überall zusammensuchen. Und dann ist es so, dass manche auch einfach fehlen. Die sind im Laufe der jetzt nun 70 Jahre einfach verlorengegangen. Zeugen sind verstorben, Beweismittel, schriftliche Unterlagen sind verlorengegangen, vielleicht auch teilweise absichtlich vernichtet worden, sodass immer gewisse Lücken bleiben. Und die Lücken müssen wir versuchen, möglichst gut zu füllen mit Vernehmungen, mit Durchsuchungen, mit Zeugenaussagen, die wir beitragen, und, und, und. Damit irgendwann ein Staatsanwalt sich ein Bild davon machen und entscheiden kann, ob es für eine Anklage reicht oder nicht, und ob das Verfahren dann eingestellt wird.

Beschränken Sie sich dabei auf einen bestimmten Personenkreis?

Stefan Willms: Nein. Das kommt immer darauf an, wie das Verfahren bei uns anlandet. Im Moment ist es so, dass sehr viele Verfahren im Zusammenhang mit Konzentrationslagern geführt werden. Das hängt mit dem Demjanjuk-Urteil zusammen. Es ist damals vom Landgericht München die Entscheidung getroffen worden, ihn als Wachmann zu verurteilen. Da ist erstmals ein Wachmann verurteilt worden, der nicht selbst unmittelbar eine Tat begangen hat, sondern alleine aufgrund des Umstandes, dass er als Wachmann in dem Konzentrationslager tätig gewesen ist und damit ja die Flucht der Inhaftierten, der Häftlinge verhindert und dadurch Beihilfe geleistet hat. 

Und in der Folge sind dann von Ludwigsburg aus, das ist eigentlich die Ausgangsstelle, sämtliche Konzentrationslager noch einmal überprüft worden, ob es da noch lebende Wachleute gibt. Und die Unterlagen sind dann im ersten Zug jeweils an die Wohnorte, Staatsanwaltschaften der jeweiligen Beschuldigten abgegeben worden. So haben wir dann Verfahren gegen Stutthof-Leute gehabt, gegen Leute vom Konzentrationslager in Auschwitz. Und in diesen Fällen geht die Ermittlung dann gezielt zu einer Person. Was hat diese Person gemacht? Ist sie in dem Lager gewesen? Hat es in der Zeit in dem Lager, in dem sie da war, Tötungsdelikte gegeben? Und hat sie in einer Form Beihilfe dazu geleistet? Das ist dann in diesem Fall zu klären. 

Andere Verfahren, die man immer schon mal hat, ist beispielsweise Oradour in Frankreich. Oradour ist ein Dorf, im Südwesten von Frankreich gelegen. Da ist das größte Kriegsverbrechen auf dem westlichen Kriegsschauplatz verübt worden. Da ist von einer SS-Einheit ein ganzes Dorf ausgelöscht worden. In dem Fall geht es dann gegen eine ganze Einheit. Und dann muss man feststellen: Wer hat dieser Einheit angehört? In welcher Funktion hat er der Einheit angehört? Ist er am Tattag auch dabei gewesen? Und dann ist es hier anders als bei den Konzentrationslagerverfahren: Hier reicht es nicht aus, dass man sagt, ein SS-Angehöriger war da. Hier muss man konkret herausarbeiten, welche Rolle hat er denn gespielt. Ist er beispielsweise nur außen in der Umstellung gewesen oder hat er aktiv verhindert, dass Menschen, welche zuvor in eine Kirche gepfercht wurden, fliehen konnten, z. B. indem er auf sie geschossen hast.

Angesichts des Alters dieser möglichen Täter, wie schwer ist es dann, solche Situationen aufzuarbeiten? Ist es heute überhaupt noch möglich?

Stefan Willms: Also es ist natürlich so: In dem Moment, wo kein lebender Tatverdächtiger mehr da ist, darf die Justiz nicht weiter ermitteln. Würden wir also jetzt in einem Verfahren ermitteln und wir finden keinen Täter mehr, dann sind die Ermittlungen beendet. Dann darf man nicht weiter ermitteln. Dann ist es zwar aus historischer Sicht unter Umständen noch interessant, aber der Justiz sind die Hände gebunden. Dann wäre das Verfahren vorbei. 

Aber solange es noch Täter gibt, wird natürlich auch weiter versucht. Und man muss versuchen, Zeugen zu finden, Zeitzeugen, die überlebt haben. Das werden natürlich immer weniger, aber noch gibt es welche, die wir auch dazu vernehmen können. Das ist natürlich schwierig, gerade im Zeugenbeweis nach so langer Zeit. Aber es geht. Man sieht es ja vor Gericht in Hamburg beispielsweise, da werden ja auch immer wieder Zeugen gehört, die wir vorher selbst gehört haben. Gestern ist beispielsweise ein Zeuge aus Israel gehört worden, den habe ich vor knapp zwei Jahren in Israel selbst vernommen.

Was sind die Grundlagen Ihrer Ermittlungen? Haben Sie in Düsseldorf ein eigenes Archiv oder eigene Unterlagen, die Sie als Ausgangslage nutzen?

Stefan Willms: Nein, wir nutzen das Aktenmaterial, das wir bekommen. Das ist eine Ermittlungsakte, die wir von der Staatsanwaltschaft erhalten haben. Dort wird der Anfangssachverhalt geschildert. Und dann fängt man an, die Puzzleteile zusammenzusuchen. Und dafür gibt es natürlich Archive, mit denen man immer wieder zu tun hat, zusammenarbeitet. Das ist einmal die Personalabteilung vom Bundesarchiv. Hier liegen beispielsweise Unterlagen zu Soldaten, die in der Zeit des Zweiten Weltkriegs irgendwo Dienst versehen haben. Da findet man Personalunterlagen, von wann bis wann ein Soldat bei der Einheit war, ob er Orden bekommen hat, ob er irgendwann mal verwundet wurde und, und, und. 

Daneben gibt es das Bundesarchiv in Berlin, eine Stelle in Koblenz und das Militärarchiv in Freiburg. Auschwitz hat ein eigenes Archiv, oder in Oradour gibt es ein sogenanntes Centre de la mémoire, ein großes Archiv. Die Akten muss man dann mehr oder weniger durchsuchen und auswerten. Manchmal gibt es auch Verfahren, die schon geführt wurden. Da wendet man sich dann an die Staatsanwaltschaft und erfragt, wo die Ermittlungsakten archiviert sind. Es ist also sehr, sehr viel Auswertearbeit.

Gibt es auch Menschen, die sich bei Ihnen direkt melden?

Stefan Willms: Das ist eher selten. Das gibt es schon mal, dass über Medienberichte über unsere Arbeit sich Menschen an uns wenden. In diesem Fall transportieren wir den Sachverhalt Richtung Ludwigsburg. Dort wird dann überprüft, ob möglicherweise schon einmal ermittelt worden ist. Wenn der Ausgangspunkt Nordrhein-Westfalen bleibt, dann wird das Verfahren in der Regel über Ludwigsburg nach Dortmund, das ist die zentrale Stelle für Nordrhein-Westfalen, gegeben. Dortmund beauftragt oder ersucht dann das LKA zur Durchführung der Ermittlungen, und dann landet das bei uns. Also diese Fälle kommen auch vor, sind aber eigentlich selten

Gibt es bei Ihren Recherchen Dinge, die Sie nicht loslassen, die Ihnen nachgehen?

Stefan Willms: Ja, das gibt es natürlich schon. Also man sagt ja immer: Der Polizist nimmt auch zwei, drei Sachen mit für immer. Und das ist schon der Fall. Also diese NS-Sachen sind grundsätzlich nicht gerade ganz einfach zu verarbeiten. Wenn man also tagein, tagaus von diesen schrecklichen Tötungsdelikten in allen Formen liest, das nimmt man natürlich mit.

Ich weiß noch, als wir in Auschwitz im Stammlager im Block 11, dem sogenannten Todesblock, gewesen sind. Das ist an sich schon schrecklich, dass es in so einem Lager noch mal ein Extragefängnis gibt. Und in diesem Extragefängnis gibt es dann noch sogenannte Stehbunker, wo die Gefangenen dann ewig stehen mussten. Das war schon was, also dieses Bild hat man immer vor Augen. Das nimmt man mit. Und ein Kollege, der mit mir da war, der kam dann nachher auch raus und sagte: „Mein Gott, wer das gesehen hat, der muss uns Deutsche doch eigentlich auf Ewigkeit hassen.“ 

Bei mir ist es Oradour gewesen. Da ist eine Kirche in dem Ort gewesen, und in dieser Kirche sind damals über 400 Frauen und Kinder getötet worden. Und wenn man selbst Kinder hat und weiß, wie panisch alleine ein Kind reagiert, wenn es irgendwo im Kaufhaus jemandem von der Hand verlorengegangen ist, und man weiß dann, da waren jede Menge davon drin, und dann wird diese Kirche angezündet, dann gesprengt, und zuletzt schießt man von außen auf Menschen, die versuchen durch Fenster zu flüchten, und zum Schluss wird dann alles noch in Brand gesetzt. Und um diese Kirche herum stehen 150 SS-Männer im besten Mannesalter, und kein Einziger hilft den Menschen. Am besten stellt man sich das gar nicht vor. Das sind die Bilder, die man nicht mehr aus dem Kopf bekommt. Das nimmt man mit. Ja, und dann ist man auch nicht stolz, ein Deutscher zu sein.

Merken Sie, dass das wichtig ist, diese Aufarbeitung? Wie wird Ihre Arbeit in der Gesellschaft, gerade im Ausland, wahrgenommen? Erfahren Sie eine Art Wertschätzung?

Stefan Willms: Ja. Das ist etwas, wovon wir leben, gerade von dieser Wertschätzung. Wir bekommen fast durchweg sehr gute positive Rückmeldungen. Da war beispielsweise in Italien ein Mann, der hat mir dann nachher gesagt. „Schönen Dank, dass Sie gekommen sind, auf Sie habe ich 60 Jahre gewartet.“ Oder auch eine Überlebende aus Oradour, die wir vernommen haben. Sie hat sich nachher bedankt und gesagt: Vielen Dank, dass wir uns die Zeit genommen hätten, vor allen Dingen, dass wir alles, was Sie gesagt hätte, jetzt auch aufgenommen hätten, es würde jetzt in einer deutschen Ermittlungsakte stehen, und damit würde ihr Schicksal auf ewig dokumentiert bleiben. Es würde nicht mehr verlorengehen. Und im Nachgang hat sie sich dann noch mal an uns gewandt und geschrieben, es wäre ihr eigentlich in dieser Vernehmung erstmals gelungen, doch mit der Sache abzuschließen. Das hätte sie vorher nie geschafft. Sie würde uns Deutsche jetzt auch nicht mehr hassen. Das ist eigentlich nicht das primäre Ziel unserer Arbeit, aber es gehört irgendwie dazu. Und das sind dann Punkte, wo ich denke: Ja, also mehr können wir da eigentlich nicht erreichen.

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