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„Europa kämpft jetzt um das Grundlegendste des Miteinanders“

Petro Stanko und Iurii Kuliievych stammen aus der Ukraine und gehören der Ukrainischen Griechisch-katholischen Kirche an. Sie leben schon viele Jahre mit ihren Familien in Deutschland und sind als Katholische Militärpfarrer an mehreren Bundeswehr-Standorten in Bayern tätig. Im Interview sprechen sie über den Krieg gegen ihr Land, über die Aufarbeitung der Verbrechen in der Zeit des Kommunismus, und warum es gerade jetzt nicht nur um die Ukraine, sondern um die Zukunft Europas geht.

Von Barbara Dreiling

Welche Reaktionen haben Sie nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine erlebt? Wie ging es Ihnen an Ihren Bundeswehr-Standorten?

Petro Stanko: Am 24. Februar habe ich die Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz in Litauen, in Rukla, begleitet. Dort habe ich live erlebt, was „Zeitenwende“ bedeutet. Ganz schnell haben sich die Lage und das Denken bei den Soldatinnen und Soldaten verändert, um 180 Grad.

Iurii Kuliievych: Einen Tag vor dem Angriff hatte mich Corona erwischt. Es war sozusagen ein Doppelschlag. Am nächsten Tag haben mich meine Eltern angerufen und gesagt: „Iurii, bei uns ist Krieg.“ Zwei, drei Tage habe ich mit den Medien verbracht in einem Schockzustand, Ablenkung war nicht möglich, also zum Beispiel rausgehen. 

Und in diesen Tagen haben mich so viele Soldaten angerufen und nachgefragt: „Wie geht’s dir? Wo sind deine Eltern, deine Familie, die Kinder?“ Der Krieg hat mich überrascht. Ich war sprachlos, fassungslos und gesundheitlich angeschlagen. 

Aber als Ukrainer kämpfen wir nicht nur militärisch, sondern auch geistlich. Wir wollen Menschen bleiben sogar in diesem Zustand, wo wir fassungslos sind. Das muss man lernen, nicht aus den Büchern, sondern jetzt in der Realität.

Würden Sie jetzt gerne selbst in Ihre Heimat fahren um zu helfen?

Petro Stanko: Als Antwort auf Ihre Frage müssen wir noch sagen, was Iurii angeschnitten hat: Als der Krieg ausgebrochen ist, haben wir große Solidarität der Menschen in Europa erlebt. Die Menschen haben sofort Hilfe angeboten, haben sofort die Caritas kontaktiert, haben sofort ukrainische Familien aufgenommen – auch deutsche Soldatinnen und Soldaten, die schon Übungen gemeinsam mit ukrainischen Soldatinnen und Soldaten absolviert hatten. 

Und noch ein Wort dazu, bevor Sie die nächste Frage stellen …

Bitte.

Petro Stanko: Es gibt auch Stimmen in der Gesellschaft: Warum wird nur über die Not der Ukrainer gesprochen, warum wird nur für Ukrainer gebetet und nicht für Russen? Die einfache Antwort ist: Weil das Land, die Ukraine, angegriffen wurde, weil auf ukrainischem Territorium Raketen einschlagen, Häuser zerstört werden, die Menschen ohne Dach über dem Kopf sind und ihre Angehörigen verlieren. Deswegen hat die Europäische Gemeinschaft, haben die Menschen sofort reagiert und natürlich auch mit Fürbitten. Sie haben sich konzentriert auf die Bedürftigen in dem Land, wo der Brand stattfindet.

Es gibt diese Unentschlossenheit in der Politik, aber auch in der Gesellschaft. Manche wollen nicht wahrhaben, was in der Ukraine gerade passiert. Wie gehen Sie damit um?

Petro Stanko: Das ist eine sehr komplizierte Frage, die kann man nicht schnell beantworten. Man muss an dieser Stelle auch sagen: Hätten die Ukrainer in den ersten Tagen und Wochen nicht das Land so tapfer verteidigt, dann hätte uns niemand geholfen. Die Welt musste erst umdenken, musste erkennen, dass sich die Tagesordnung geändert hat, dass dieser Epochenwandel passiert ist. 

Iurii Kuliievych: Deswegen waren für mich die Freiwilligen in der Ukraine ein entscheidender Punkt. Damit hat der Kreml nicht gerechnet, dass er so viel Kontra kriegt und dass die einfachen Bürger kämpfen werden.

Wenn das nicht passiert wäre ... Wir hatten eigentlich keine richtige Armee, erst 2014 haben wir angefangen, uns richtig auszustatten. Trotzdem hat die Regierung viele Milliarden in andere Bereiche investiert, in Infrastruktur zum Beispiel. Das zeigte auch: Wir wollen keinen Krieg. Wer will heutzutage schon einen Krieg führen?! Das ist unmenschlich, unverständlich und inakzeptabel. 

Der Exarch der Ukrainischen Griechisch-katholischen Kirche in Deutschland sagte auf der Gesamtkonferenz der Katholischen Militärseelsorge, dass das Schicksal Europas vom Schicksal der Ukraine abhänge.

Petro Stanko: Ja, im 20. Jahrhundert lag die Zukunft Europas in der deutsch-französisch Versöhnung. Jetzt hängt die Zukunft vom russischen und ukrainischen Volk ab. Doch die Herausforderung hat der Exarch auch genannt: Es gibt keine Versöhnung ohne Gerechtigkeit. Das heißt, dass die Schuldigen benannt werden müssen. Sie müssen zur Verantwortung gezogen werden. Und das wird die Herausforderung der beiden Länder und aller Länder in der Welt, die Konflikte haben.

Zurzeit ist aber noch Krieg. Menschen sterben, Menschen leiden. Wie gehen Sie damit um?

Iurii Kuliievych: Wenn ich das als Christ verzeihe, dann muss ich es gerecht machen, sonst passiert es wieder, sonst ist es den Opfern gegenüber ungerecht. Unsere Vorfahren sind verhungert, wurden deportiert wegen ihrer Identität als Ukrainer. Das darf ich nicht vergessen. Auch heute leben wir nicht im Paradies. Deshalb müssen wir kämpfen, nicht weil wir Hass spüren und zornig sind, sondern aus Liebe zum Mitmenschen, zu denjenigen, die hinter uns stehen, die unbewaffnet sind, ganz normale Bürger – kämpfen aus Liebe, nur aus Liebe, nicht aus Wut. 

Und wir müssen aus der Geschichte lernen. Brutalität kennt keine Grenzen. 

Wie meinen Sie das?

Iurii Kuliievych: Wenn wir schweigen, dann schweigen die Seelen. Das ist unsere Verantwortung gegenüber den Opfern, weil wir leben. Wissen, sehen und hören, aber nichts tun – das ist das Schlimmste, was eintreten könnte; wenn wir einfach verzeihen, ohne zu benennen, warum wir verzeihen. 

Was muss aus Ihrer Sicht benannt und aufgearbeitet werden?

Iurii Kuliievych: Wir schauen auf unsere Geschichte und merken, dass es nie gut war mit unserem Nachbarn, der uns einfach nur ausnutzen und erniedrigen möchte, damit er sich groß und mächtig darstellt. Und das tut uns weh, das muss auch benannt werden. Denn die Geschichte wiederholt sich, weil der Kommunismus vergessen wurde und die Verbrechen der damaligen Zeit, die sowohl im Nationalsozialismus als auch im Kommunismus stattgefunden haben. Den einen Teufel haben wir verurteilt, aber den Kommunismus haben wir nur teilweise bearbeitet. 

Als Christ, als Mensch kann ich nicht verzeihen, solange nicht benannt wird, dass unsere Vorfahren verfolgt wurden, weil sie griechisch-katholisch waren, dass ihnen Weihnachtslieder beigebracht wurden, die sie aber nicht singen durften, weil es verboten war. Als kleines Kind fragst du die Großeltern, warum sie dir das beigebracht haben, wenn du nicht singen darfst. Mit der Zeit kriegst du mit, was der Grund ist. Dass wir als freie Menschen in einem freien Land leben und uns mit anderen austauschen können – das ist heute unsere Mission, meiner Meinung nach.

Eine Mission für Europa?

Petro Stanko: Ja, wir sehen, die Mission für Europa bedeutet Umdenken. Und wir hoffen, dass Europa wach wird. Wir haben hier grundlegende Probleme: Die Verletzung der territorialen Grenzen eines unabhängigen Staates. Auch rechtliche Grenzen sind überschritten. Wir wissen alle, dass die Ukraine 1994 mit den USA, Großbritannien und Russland das Budapester Memorandum unterschrieben und ihre Atomwaffen abgegeben hat. Und diese Länder haben unterschrieben, dass sie Garanten der Unabhängigkeit und Souveränität des Landes sein werden. Und diese Grundlagen, die Grundlagen des Miteinanders, sind verletzt worden. 

Anstatt darüber diskutieren manche Leute, ob die Ukraine zu Russland gehört. Sie sprechen nicht über die anerkannten und allgemeingültigen Regeln, nach denen ein Staat nicht einfach einen anderen angreift. Und dann leiden darunter auch kleine Länder.

Es geht also um Recht und Freiheit.

Petro Stanko: Europa kämpft jetzt um das Grundlegendste des Miteinanders in einer globalen Welt. Und wir hoffen, dass das Miteinander gewinnt. Aber das kann erst dann passieren, wenn – so wie der Nationalsozialismus verurteilt wurde – Russland die Geschichte aufarbeitet und sich entschuldigt bei vielen Ländern, sich auch zum Kommunismus und den Gräueltaten des Kommunismus bekennt. 

Ein Beispiel wäre das Massaker von Katyn 1940, bei dem tausende polnische Offiziere umgebracht wurden und später die Massengräber gefunden wurden. Und die anderen unzähligen Opfer des Kommunismus. Wer waren die Täter? Warum muss man heutzutage Stalin in einem Staat verherrlichen und den Diktator groß feiern? Also das sind die zukünftigen Themen Russlands und der Welt. Das sind richtige Brocken, richtig schwierige Fragen. Aber es ist im Leben nicht alles einfach.

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