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Lass uns reden und lass gehen

Eine Betrachtung zum Lebensende, wenn aus einem redaktionellen Beitrag Realität wird

Der Kompass 10/19 war gerade fertig, da erhielt ich von einem guten Freund die persönliche Nachricht, dass er stirbt. Der Titel „Lass uns über den Tod reden“ war für mich plötzlich konkret geworden. Obwohl seit Monaten klar war, dass seine Gesundheit immer schlechter wurde, versuchte er anfänglich abzuwiegeln: „Die Eisenwerte sind im Keller“, grummelte er in seinen Bart. Ich raunzte ihn an, zum Arzt zu gehen. „Was soll der schon machen?“, lautete seine Antwort. 

Wir doch nicht

Mit meiner Erfahrung und Menschenkenntnis und seinem Verhalten mir gegenüber war klar, das mehr dahintersteckte. Aber Tod? Wir doch nicht. Und doch haben wir jetzt mit dem Tod zu tun, „Schlafes Bruder, dem Sensemann“, oder wie auch immer wir versuchen, ihn zu bezeichnen. Das Resultat ist immer gleich: Konsequent, unabwendbar und damit schwer fassbar endet ein gemeinsamer Weg. Biologisch hört die Zellteilung auf, keine Hirnströme mehr. 

Erinnerung hilft loszulassen

Mein Freund hat es, glaube ich, geschafft und tröstet mit einer Nachricht, im 21. Jahrhundert auf WhatsApp an mich geschrieben:

Moin Norbert, es ist langsam an der Zeit, mich zu verabschieden. Paul [Name vom Verfasser geändert.] ist bereits umfassend informiert und er hat auch die Kontaktdaten meines Verwandten, der sich um meinen Nachlass kümmert. Unterstützung habe ich von meinem Doc, der mich mental begleitet und schmerzfrei hält.
Wann es nun genau soweit ist, überlasse ich der Natur, lange wird es aber nicht mehr dauern und ich bin auch bereit, loszulassen.
Die letzten Tage habe ich genutzt, um meine ToDo-Liste noch soweit wie möglich abzuarbeiten. Sehen werden wir uns nicht mehr; es ist besser für Dich, mich so in Erinnerung zu halten, wie wir uns das letzte Mal gesehen haben.
Ich danke Dir, dass Du für mich nicht nur ein „Freund der gemeinsamen Tätigkeit“ warst, sondern ich Dich auch als wertvollen Menschen kennenlernen durfte.

Und wenn es so sein soll, sehen wir uns woanders wieder.

Fragen, Zweifel und weitergehen

Es bleiben die Fragen, ob nun die Hülle zurück bleibt und: Wo sind alle Gedanken, das Ausgesprochene, was wird aus dem Wesen meines Freundes, seiner Seele? Weil ich es nicht mehr in der Hand habe, und er noch weniger, ist es so undenkbar. Zweifel erheben sich: „Hätten wir mehr miteinander reden und tun sollen? Können die Ärzte nicht etwas gegen seine Diagnose ausrichten? Egal, wie die Zweifel und Überlegungen sich entwickeln, Eines bleibt am Ende immer: Nicht wir steuern unser Leben. Jetzt kommt es darauf an, dass wir weiter miteinander umgehen. So lange, bis er keine WhatsApp mehr schreibt. Ich bin online, mein Freund.

Zwischen Weinen und Lachen schwingt die Schaukel des Lebens. Zwischen Weinen und Lachen fliegt in ihr der Mensch.

Christian Morgenstern

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