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Kein Feindbild mehr

Prälat Heinrich Hecker war von 1969 bis zum Jahr 2002 katholischer Militärseelsorger, ab 1990 war er Beauftragter für den Aufbau der Katholischen Militärseelsorge im Osten Deutschlands. Wir haben ihn nach seinen Erinnerungen an die Auflösung der Nationalen Volksarmee der DDR (NVA) und die Aufnahme vieler ehemaliger NVA-Soldaten in die Bundeswehr im Jahr gefragt. In der NVA gab es nicht nur keine Militärseelsorge, sie war in dem sozialistischen Staat vollkommen unvorstellbar. 

Heinrich Hecker notiert uns seine Erinnerungen in Form eines Interviews. Einige Passagen daraus können Sie als Audio-Beitrag anhören.

Welche Zeit in den 33 Jahren war für Dich eigentlich die seltsamste oder spannendste?

Die 11 Jahre von 1991 bis 2002. Da sollte ich mich darum kümmern, katholische Seelsorge auch für die Bundeswehrsoldaten in den Neuen Bundesländern in Gang zu bringen.

Diese Soldaten waren doch nicht nur „Wessis“, die so etwas kannten und zum Teil auch schon ihre „eigenen“ Pfarrer motiviert hatten, in die Neuen Bundesländer mitzugehen. Der größere Teil der Soldaten stammte doch aus der ehemaligen DDR. Und damals gab es auch noch die Wehrpflicht. Wollten diese Soldaten denn überhaupt eine Seelsorge?

Auf so einen Gedanken wären sie nie gekommen. Dabei waren sie gar nicht mal „anti-kirchlich“. Kirche und Religion überhaupt war für die meisten unbekanntes Gelände. Damit konnten sie einfach nichts anfangen.

Na ja, und in der NVA gab es ja auch keine Militärseelsorge. 

Es gab vor allem unter den Wehrpflichtigen auch Christen. In der DDR wurden von 100 Neugeborenen etwa 7 Kinder evangelisch und 3 katholisch getauft. Und es gab eine „getarnte“ Seelsorge. Es gab in der Jugendseelsorge Treffen mit Erfahrungsaustausch von Wehrpflichtigen. Es gab Erkennungszeichen wie das Pfeifen eines Kirchenliedes unter der Dusche und kleine Gebetskreise. Es gab Briefwechsel mit Seelsorgern. Es gab Pfarrer, die ihre Jungs als „Onkel“ besuchten.

Und ich habe zum Beispiel bei einem Besuch in Waren/Müritz um 1983 herum erlebt, dass eine Gruppe von Wehrpflichtigen an ihrem freien Wochenende im Pfarrhaus auftauchte, die Uniform in Zivil tauschte und die Messe mitfeierte. Darüber wurde natürlich nicht viel geredet. 

Du sprichst von den Wehrpflichtigen.

Zu denen könnte man auch die rechnen, die sich für zwei oder drei Jahre verpflichtet hatten, um einen Studienplatz zu bekommen. Aber zu den Vorgesetzten gab es doch eine deutliche Distanz.

Reagierten diese beiden Gruppen unterschiedlich auf Militärseelsorge?

Die Vorgesetzten aus dem Westen sorgten überwiegend dafür, dass wenigstens vor dem Gelöbnis ein Unterricht und möglichst auch ein Gottesdienst eingeplant wurde. Das war zwar in Anbetracht der Teilnehmer etwas übergriffig. Aber die Wehrpflichtigen machten, was befohlen war.  Und so erlebten sie zum ersten Mal einen zivilen Pfarrer in ihrer Kaserne und gerieten erstmals auch in eine Kirche, die sie von sich aus nie betreten hätten.

Wir hatten oft den Eindruck, dass sie dieses unbekannte Gelände erkundeten und auch Fragen stellten. Eine davon betraf den Menschen am Kreuz: Wer ist das? Kirche war ihnen fremd, aber sie waren eigentlich nicht voreingenommen oder gar feindselig.

Die ehemaligen Führungskader der NVA blieben eher auf Distanz. Für die meisten von ihnen war die wichtigste Frage, ob sie auf Dauer in die Bundeswehr übernommen würden. Wenn dazu gehörte, eine Militärseelsorge zu akzeptieren, konnten sie damit leben.

Und wie gerieten Pfarrer in diese Seelsorge?

Kamen sie aus dem Westen? Konnten Pfarrer aus der DDR bei der bisherigen großen Distanz zum SED-Staat und zur NVA überhaupt etwas damit anfangen?

Es war von Anfang an klar, dass die Seelsorge für Soldaten aus dem Osten kein „West-Import“ sein konnte.  Für mich war überraschend, wie häufig Kommandeure oder Chefs aus dem Westen schon Ortspfarrer aufgesucht und gebeten hatten, Gottesdienst und vielleicht auch Unterricht vor dem Gelöbnis zu übernehmen. Das war auch für die Pfarrer eine ganz neue Erfahrung, mit der sie bei allem Umbruch nicht gerechnet hatten. Einige wenige haben das, wie ich erfuhr, aus verschiedenen Gründen abgelehnt. 

Aber die meisten haben wohl die Meinung geteilt, die einer von ihnen einmal äußerte: „ Wenn in meiner Pfarrei ein Altenheim da ist, das ich bisher nicht betreten durfte, und wenn es eine Kaserne gibt, die bisher für mich tabu war, und wenn dort Kontakt und vielleicht Seelsorge möglich ist, dann sehe ich darin meine Aufgabe.“ 

Diese Aufgabe übernahmen sie als „Standortpfarrer im Nebenamt“. Das war sehr wichtig. Die Kirche vor Ort war Ansprechpartner für die Soldaten einer Kaserne. Und die Gemeinden erlebten, dass ihr Pfarrer sie wegen der Soldatenseelsorge nicht vernachlässigte.  

Und was konntest Du selbst tun?

Ich suchte zunächst die Bischöfe auf, um mich vorzustellen. Eine allgemeine Zustimmung zur Militärseelsorge hatten sie schon gegeben. Jetzt ging es um ihre Zustimmung zum konkreten Auftrag für einen Pfarrer. Bei ihnen fand ich viel Verständnis und Unterstützung. Ich bekam auch Gelegenheit, bei großen Konferenzen etwas zur Seelsorge für die Soldaten und ihre Grundsätze zu sagen. 


Pfarrhelfer für die neue Militärseelsorge gesucht

In der neu aufgebauten Katholischen Militärseelsorge in den östlichen Bundesländern brauchte man nicht nur Seelsorger, sondern auch Pfarrhelfer. In diesem Beruf ist es erforderlich, die Aufgaben der Militärseelsorge auch durch den eigenen katholischen Glauben mitzutragen. Interview mit einem Pfarrhelfer aus dem Dekanat Berlin.

Tätigkeit: Pfarrhelfer im Dekanat Berlin
Geburtsjahr: 1966
Erlernter Beruf: KFZ-Elektromechaniker 

Wie haben Sie persönlich die Zeit Ende 1989 Anfang 1990 wahrgenommen? 

Es war eine aufregende Zeit mit fast täglichen Veränderungen, die man sich selbst im Sommer 1989 noch gar nicht vorstellen konnte. Rasante Umbrüche mit vielen Unsicherheiten. Und ganz viele neue Dinge, Freiheiten, die wir vorher nicht hatten. Wir haben uns Sachen getraut – die ersten Demonstrationen, das war aufregend, die ersten freien Wahlen der Volkskammer. Wir waren auch euphorisch, manchmal wie auf einer Welle, alles stand offen, was vorher undenkbar war, in diesem Staat der die Leute abgeschirmt hat. Und wir waren ja jung damals. 

Was hat sich für Sie persönlich nach dem Ende der DDR geändert?
Mein Betrieb wurde umstrukturiert und ich habe eine berufsbegleitende Ausbildung zum Automobilverkäufer gemacht.  

Wie kamen Sie zur Bundeswehr?
Unser damaliger Kaplan hat mich angesprochen. Er wusste, dass die Katholische Militärseelsorge Pfarrhelfer sucht. Voraussetzung war, dass Pfarrhelfer katholisch waren und ich war ja auch in der zivilen Kirchengemeinde aktiv.

Was macht Ihren Beruf als Pfarrhelfer aus?
Neben dem umfangreichen Büroalltag die Planung von Lebenskundlichen Unterrichten und Lebenskundlichen Seminaren, sowie Familienwochenenden oder Standortgottesdiensten und anderen Veranstaltungen.

Im Dekanat Berlin gibt es viele nicht-religiöse Menschen. Wie reagieren Soldatinnen und Soldaten auf Angebote wie Standortgottesdienste?
Die Soldaten oder Zivilbeschäftigten, die kommen, die sind offen für Religion, wenn auch nur wenige evangelisch oder katholisch sind. Es ist auch eine Zeit für gegenseitigen Austausch und innehalten im Alltag.


Wichtig war dabei übrigens, dass die Seelsorger einen zivilen Status und keine Uniform hatten. Bei diesen Konferenzen wurde ich immer wieder direkt auch angesprochen von Pfarrern, die schon Kontakte zu Soldaten hatten oder Interesse äußerten.

Ich suchte dann vor allem in denjenigen Standorten, die auf Dauer bleiben sollten, die Ortspfarrer auf und erkundete ihre Bereitschaft, Seelsorge für die Soldaten „ihrer Kaserne“ zu übernehmen. 

Und was hast Du dabei erlebt?

Eine erstaunlich große Bereitschaft. Hin und wieder gab es natürlich auch Ablehnung wegen grundsätzlicher Distanz zwischen Kirche und Militär. Gelegentlich wurde mir auch von engagierten Christen vorgeworfen: „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“. Aber mein Lied war ein Kirchenlied. Und darauf kam es auch bei den Seelsorgern an.

Das waren vor allem nebenamtliche Pfarrer mit ziemlich unterschiedlichen Möglichkeiten in ihrer Tätigkeit. Und von Anfang an wurden auch Pfarrer freigestellt für eine hauptamtliche Seelsorge. Wichtig war, dass sie die DDR und ihre Geschichte selbst erlebt hatten.

Und wie haben die Angehörigen der Bundeswehr die Pfarrer erlebt?

Vor allem wurden sie nicht als Vertreter einer Kirche betrachtet, sondern als ein Mensch, der merkwürdigerweise Pfarrer ist. Dabei spielte die Konfession kaum eine Rolle. Sie wurde allerdings vor allem von evangelischen Offizieren aus dem Westen thematisiert, die enttäuscht waren von der zunächst sehr distanzierten Haltung ihrer Kirche „in den Ländern der Reformation“ zum Soldatendienst und einer entsprechenden Seelsorge.

Gab es denn besondere Ereignisse in der Praxis?

Eine sehr gute Initiative waren z. B. die Seminare zu „Lebens- und Glaubensfragen“, die in den ersten Monaten von Dekan Kusen und Pfarrer von Schwartzenberg in St.Meinolf am Möhnesee angeboten wurden. Mit etwas Nachhilfe bei Vorgesetzten aus der NVA bekamen die interessierten Soldaten dafür auch ihren Sonderurlaub.

Dann fand die Lourdes-Wallfahrt ein überraschendes Interesse bei „nichtkirchlichen“ Soldaten. Sie waren durchweg nicht nur als Beobachter dabei, sondern sie beteiligten sich wirklich daran. Es gab sogar gelegentlich bei ihnen Kritik an Kameraden aus dem Westen, die diese Wallfahrt nicht ernst nehmen würden.

Konntet ihr denn so etwas wie „Erfolge“ verzeichnen?

Martin Buber hat einmal gesagt: „Erfolg“ ist keiner der Namen Gottes. Und wir waren weit entfernt von irgendwelchen „Missionserfolgen“, die sich manche im Westen erträumt hatten. Viele Westdeutsche und auch manche in die Neuen Bundesländer abgeordneten oder versetzten Soldaten hatten ja keine Vorstellung von den wirklichen Verhältnissen dort und von den Menschen und ihrem Denken. So waren z. B. manche Kommandeure aus dem Westen irritiert, dass ehemalige NVA-Soldaten den Eid als SaZ ohne religiöse Formel leisteten. Die Bildung der Menschen in der DDR war eben die einer materialistischen Weltanschauung, in der die „überholten religiösen Ansichten“ keinen Platz hatten und für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft unbrauchbar waren.

Verwaltungsleiterin in der Bundeswehr

Petra Seidenglanz ist Referatsleiterin des Verwaltungsreferates (Referat III) im Katholischen Militärbischofsamt. Sie studierte Wirtschaftswissenschaften mit Abschluss Dipl.-Ing. Ökonom. Wir haben sie nach ihren Erfahrungen bei der Auflösung der NVA und dem Aufbau der Bundeswehr in den ostdeutschen Bundesländern gefragt:

„Zum Zeitpunkt der Einheit war ich in der Verwaltung der NVA als Wissenschaftliche Mitarbeiterin (ziv.) tätig.

Weil ich mich auf den Gebieten Haushalt und Nebenkosten (zum Beispiel Reisekosten und mehr) auskannte und dort tätig war, wurde ich in die Bundeswehr übernommen und als Leiterin des Verwaltungsbereiches eingesetzt. Für die Soldaten aus den „alten Bundesländern“ war es anfangs ein Problem, dass Frauen in Führungspositionen waren, da sie dies nicht aus den Bundeswehrstrukturen kannten.

Den Weg zur „Armee der Einheit“ fand ich lang und steinig.

Die erste Begegnung mit katholischen und evangelischen Militärpfarrern hatte ich 2014 bei einem gemeinsamen Mittagessen der Kommandeure in der Julius-Leber-Kaserne in Berlin. Damals hatte ich keine Ahnung, wo ich sie organisatorisch einordnen sollte, aber die Gespräche waren nett und freundlich. Ich hatte schon die Aushänge der Militärseelsorge wie die Einladung zu Gottesdiensten, Rüstzeiten, Werkwochen und ähnliche registriert, aber mehr auch nicht.

Als ich 2017 eine Ausschreibung für einen Dienstposten beim Evangelischen Kirchenamt der Bundeswehr sah, habe ich mich intensiver mit der Militärseelsorge beschäftigt und mich dann auch auf diesen Dienstposten erfolgreich beworben. Seitdem habe ich viele Militärseelsorger*innen kennengelernt und auch deren Arbeit schätzen gelernt.

Meine Aufgabe in der Militärseelsorge ist es, die staatliche Verwaltung und die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen sicherzustellen. Das Referat Verwaltung beschäftigt sich auch wieder mit Reisekosten, darüber hinaus mit der Materialverwaltung des Bundes, der Haushaltüberwachung und vielen weiteren Verwaltungsaufgaben.“


Durch die Seelsorger in der Bundeswehr kamen sie nun in Berührung mit einer anderen Art des Denkens und Lebens. Intern nannten wir unsere Militärseelsorge darum gelegentlich auch „LPG Christliche Morgenröte“. Sie war also keine Fortsetzung der sogenannten „Rotlichtbestrahlung“ durch die Politoffiziere der NVA – das wurde uns auch schon mal vorgeworfen. Wir forderten ja auch keine Zustimmung oder Umkehr. Wir freuten uns wohl darüber, wenn aus Distanz immer wieder auch Interesse wurde. Im Grunde waren die Soldaten, mit denen wir umgingen, so etwas wie „naturbelassene Christen“.

War die Militärseelsorge ein Beitrag zur „Armee der Einheit“?

Die Bundeswehr wurde von den meisten Menschen aus der DDR ja durchaus als Gegensatz zur NVA erlebt. Allerdings mit Kommentaren. Wenn ich bei einem öffentlichen Gelöbnis unter den Zuschauern war, konnte ich nicht selten ironische Bemerkungen hören, wieviel zackiger und kämpferisch besser doch die NVA gewesen sei. Aber die Bundeswehr hatte kein „Feindbild“ mehr. Sie wurde anders geführt. Sie war in die Gesellschaft integriert. Bildlich gesprochen: Man konnte in ihr frei atmen.  
Daran hatte die Militärseelsorge immer schon mitgewirkt. Und das war vielleicht dann auch im Osten ein Beitrag zu einer „Armee der Einheit“.

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