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Sexuelle Gewalt als Kampfmittel im Krieg

Gewalt an Zivilistinnen und Zivilisten ist durch das Kriegsvölkerrecht verboten und doch allgegenwärtig. Oft wird sexuelle Gewalt gezielt eingesetzt, um Gegnerinnen und Gegner zu brechen. Die Bewältigung der persönlichen und gesellschaftlichen Traumata ist kaum möglich. Gerhard Kümmel ist Wissenschaftlicher Direktor am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr und erklärt die Auswirkungen sexueller Gewalt am Beispiel des Kriegs in Bosnien und Herzegowina (1992-1995).

Von Gerhard Kümmel

Instrument der Kriegführung

Die Erfahrung von Gewalt in militärischen Auseinandersetzungen im Allgemeinen und die Erfahrung von sexualisierter Gewalt in einem militärischen Kontext im Besonderen bilden für Nachkriegs- beziehungsweise Post-Konflikt-Gesellschaften eine mitunter schwere Hypothek. Diese Erlebnisse führen zu Verletzungen sowohl einer Vielzahl von Einzelpersonen als auch des (nationalen, lokalen, ethnischen, …) Kollektivs, dem diese Personen angehören.

Verletzungen können heilen; meist hinterlassen sie indes mehr oder weniger starke Narben. Mitunter gleichen sie aber auch immer wieder aufbrechenden Wunden, was für Erinnerungs- und Versöhnungsprozesse nach dem Krieg eine große Belastung darstellen kann.

Der Krieg in Bosnien belegt dies. Er forderte über 100.000 Tote und machte mehr als 2.000.000 Menschen zu Flüchtlingen. Dabei kam es auch zu Akten ethnischer Säuberung. So wurde in ethnisch durchmischten Gebieten die jeweilige Minderheitengruppe angegriffen und vertrieben oder ermordet. Die systematische Tötung von rund 8.000 männlichen Bosniaken – die jüngsten waren gerade einmal 13 Jahre alt – in der Nähe der Stadt Srebrenica im Juli 1995 durch serbische Truppen steht paradigmatisch für ein solches Massaker, das wesentlich dazu beigetragen hat, dass die internationale Staatengemeinschaft die Geschehnisse auf dem Balkan inzwischen als Genozid bewertet. Hierzu gehört auch die gezielte Anwendung von sexueller Gewalt, von der mindestens 20.000 bis 25.000, nach einigen Schätzungen sogar bis zu 50.000 – vor allem muslimische – bosnische Frauen und Mädchen betroffen waren. Über Jungen und Männer, die ebenfalls sexualisierter Gewalt zum Opfer fielen, gibt es keine annähernd verlässlichen Zahlen. Auf der Seite der gewaltausübenden Akteure wiederum sind insbesondere bosnische Serben zu nennen.

Die Ausübung sexualisierter Gewalt in Bosnien-Herzegowina weist eine Logik der Instrumentalisierung von Sexualität und Geschlecht auf. Die Systematik und der organisatorische Aufwand, mit dem eine militärische Sexualitäts- und Geschlechterpolitik umgesetzt wurde, zeigen an, dass sexualisierte Gewalt hier zu einem Instrument der Kriegführung geriet: Sie wurde bewusst und kalkuliert eingesetzt, stabsmäßig durchgeplant und implementiert. Vergewaltigung und weitere Akte sexualisierter Gewaltausübung wurden zum Kampfmittel in den kriegerischen Auseinandersetzungen; Sperma verwandelte sich sozusagen in eine biologische Waffe.

Der Einsatz sexualisierter Gewalt in einem militärischen Konflikt folgte einem strategischen Kalkül mit genozidaler Grundierung, das vier Komponenten aufweist:

In den sexualisierten Gewaltakten und in den Vergewaltigungen mutiert der Körper der bosnischen Mädchen und Frauen zum „Schlachtfeld“ (Gaby Zipfel). Die Einzel-, Gruppen- und Massen-Vergewaltigungen sind zunächst eine massive Verletzung und Demütigung der Mädchen und Frauen selbst, die darauf ausgerichtet ist, sie als Angehörige der als ethnisch anderen und feindlichen Gruppe individuell zu bekämpfen und ihre Sozialbeziehungen, insbesondere in der Familie, zu unterminieren, auch durch gezielte Unfruchtbarmachung, und sie dadurch physisch oder psychisch zu beschädigen oder gar zu zerstören.

Die sexualisierten Gewaltakte sind darüber hinaus eine Botschaft der Täter an das ethnisch-nationale Kollektiv, aus dem die Opfer kommen und deren männlichen Mitgliedern signalisiert wird, dass sie ihre Frauen und ihre Töchter nicht schützen können. Der Frauenkörper steht dabei symbolisch wie auch kulturell für das Territorium und den Volkskörper. Die Entweihung, die Nahme  des Frauenkörpers entspricht somit einer Landnahme.

Durch sexualisierte Gewalt gegenüber Männern, die dadurch sozusagen zu Frauen gemacht werden, wird aber auch der Männerkörper zu einem „Schlachtfeld“ des Krieges und zielt auf die Demütigung, Erniedrigung, Demoralisierung und psychische Zerstörung des ethnischen Gegners.

Auf Seiten der Täter schließlich produziert die Vergewaltigung eine die Gruppenkohäsion fördernde Bruderschaft der Schuld und schwört die einzelnen Mitglieder der Gruppe auf die Gruppe und auf die Einheit der Ethnie ein.

Die Erinnerung

Von großer Bedeutung für das Erinnern an Erlebnisse sexualisierter Gewalt war im vorliegenden Fall zweifellos die Einrichtung des UN-Kriegsverbrecher-Tribunals, das bis zum Ende seiner Tätigkeit im Jahr 2017 die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft für diese Erlebnisse und Erfahrungen band, diese dokumentierte und ihnen damit ein institutionalisiertes Forum gab. Starke Impulse, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, kamen auch von transnationalen zivilgesellschaftlichen Akteuren wie der deutschen Frauenrechtsorganisation medica mondiale oder der Schweizer Nichtregierungsorganisation Trial International, da diese die nationalen Hilfsorganisationen unterstützten und dadurch für diejenigen, die sexualisierte Gewalt erfahren hatten, geschützte Räume für Kommunikation über die Vergangenheit schufen und damit soziale Anerkennung ermöglichten.

Solche Anerkennung erlittener Gewalterfahrungen kann nicht nur für das einzelne betroffene Individuum eine heilende Wirkung entfalten, sondern auch für das Kollektiv insgesamt förderlich sein und Aussöhnungsprozesse vorantreiben. Auch durch formal-institutionelle Weichenstellungen etwa bei der juristischen Ahndung der Taten und bei Entschädigungsverfahren könnten sowohl die bosnisch-herzegowinische Gesellschaft insgesamt wie die Betroffenen von sexualisierten Gewalterlebnissen während des Krieges gestärkt werden, ihr Schweigen zu brechen, was den Friedensprozess befördern und so etwas wie die Herstellung einer friedlichen Koexistenz zwischen den Gruppen unterstützen könnte.

Davon kann im Falle Bosnien-Herzegowinas bis zur Gegenwart nur sehr bedingt die Rede sein, denn das individuelle Schweigen trifft auf ein gesellschaftliches Schweigen, ein „kommunikatives Beschweigen“ im Sinne Hermann Lübbes. Die sexualisierten Gewaltakte im Kontext der Kriegshandlungen fanden keinen Eingang in das Friedensabkommen von Dayton von 1995, so dass dort auch die Belange der Opfer keine Berücksichtigung gefunden haben. Auch die strafrechtliche Verfolgung von Tätern vor nationalen Gerichten ist bislang nur in einem geringen Umfang erfolgt, so dass die Betroffenen im Alltag oftmals ihren früheren Peinigern begegnen, die unbehelligt leben und teilweise hohe Positionen in der Verwaltung, bei den Sicherheitskräften oder in Politik und Wirtschaft bekleiden. Somit besteht die Gefahr einer Retraumatisierung. Hinzu kommt, dass die Zeuginnen in der Praxis der strafrechtlichen Verfolgung von Tätern, wenn sie denn überhaupt erfolgt, bislang wenig traumasensibel behandelt worden sind. Die gerichtliche Praxis erschütterte somit den Glauben der Betroffenen an das nationale Rechtssystem und beeinträchtigte deren Bereitschaft, Zeugenaussagen vor Gericht zu tätigen, zumal die Täter bislang nur selten zu Entschädigungszahlungen an die Opfer verurteilt worden. Für viele Betroffene ist Gerechtigkeit somit noch fern. Schließlich wurde und wird bis heute eine öffentliche politische Diskussion über die Kinder, die infolge der Vergewaltigungen geboren wurden, nur rudimentär geführt. Über die Anzahl dieser Kinder gibt es keine auch nur annähernd verlässlichen Schätzungen. Ein Teil von ihnen ist in Heimen aufgewachsen und weiß mit großer Wahrscheinlichkeit nichts über die eigene biologische Herkunft. Ähnliches dürfte auch für viele Kinder gelten, die bei ihren Müttern ausgewachsen sind. Diejenigen, bei denen bekannt wird, dass sie „Vergewaltigungsprodukte“ sind, sehen sich Stigmatisierung und Diskriminierung ausgesetzt, weil sie unbequeme Identitätsfragen etwa im Hinblick auf die durch den Krieg zementierte Frage nationaler beziehungsweise ethnischer Zugehörigkeit aufwerfen.

Auch vor dem Hintergrund der soziokulturellen Gegebenheiten im Land dominiert in Bosnien-Herzegowina eine gedächtnispolitische problematische Schweigekultur. So zieht es die bosnisch-herzegowinische Gesellschaft insgesamt in der Regel vor, über die Geschehnisse der Vergangenheit im Sinne eines „kommunikativen Beschweigen“ Lübbes zu schweigen. Aber auch die an den sexualisierten Gewaltakten Beteiligten breiten den Mantel der Verschwiegenheit über die Ereignisse aus, so dass entsprechende Erinnerungen daran vornehmlich im privat-persönlichen Raum kommuniziert werden. Im Regelfall verfolgen sie Bewältigungsstrategien der Verdrängung und der Ablenkung, was sich vor allem bei den Opfern auch in einem weit verbreiteten Konsum von Psychopharmaka niederschlägt, von dem sich die Betroffenen eine stabilisierende Wirkung versprechen, um im Alltag funktionieren zu können. Keine guten Aussichten für Heilung und Versöhnung.

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