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„Afghanistan zwischen Hoffnungslosigkeit, Terror und den Taliban – der Versuch einer friedensethischen Antwort“

Statement von Bischof Franz-Josef Overbeck, Katholischer Militärbischof für die Deutsche Bundeswehr, zur Situation nach dem Afghanistan-Einsatz auf der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz

Es gilt das gesprochene Wort!

Mit einem Tagesbefehl der Bundesministerin der Verteidigung und des Generalinspekteurs vom 31. August dieses Jahres wurde der bisher gefährlichste Einsatz in der Geschichte der Bundeswehr in Afghanistan beendet. Das mit ihm in Verbindung stehende Erbe sind moralische und humanitäre Herausforderungen, die nach Antworten verlangen und im Leid vieler Menschen deutlich werden: sowohl im Leid der Afghanistan-Veteranen und ihrer Angehörigen, die viele Verletzungen an Leib und Seele erlitten haben, als auch im Leid der afghanischen Bevölkerung, die jetzt unter dem Regime der Taliban leben muss.

Ebenso wie die Evangelische Militärseelsorge hat die Katholische Militärseelsorge seit Beginn des Einsatzes im Jahr 2002 Soldaten und ihre Angehörigen begleitet und wird auch in Zukunft an ihrer Seite stehen. Die Seelsorger haben mit den Soldaten viele der eingeschränkten Lebensumstände und Gefahren in den Einsatzgebieten geteilt und sich so als wichtige Gesprächspartner für alle Soldaten, unabhängig von der Konfessionszugehörigkeit oder dem Dienstgrad, erwiesen. Ein Seelsorger berichtete im Rahmen seiner Erfahrungen in Afghanistan davon, dass ein Soldat einmal zu ihm gesagt habe, er besuche den Gottesdienst im Feldlager, da dieser eine Möglichkeit biete, Sorgen und Gefahren für einige wichtige Momente in den Hintergrund treten zu lassen. Aus diesem Grund hätte es auch eine hohe Nachfrage nach Ritualen wie Adventfeiern gegeben, da sie Sicherheit und Heimat in der Fremde vermittelten.

Einsatz für bessere Lebensbedingungen in Afghanistan

Besonders herausfordernd war für viele Soldaten der Umgang mit der permanenten Bedrohungssituation, insbesondere außerhalb der Feldlager. Die schreckliche Erfahrung, dass vertraute Kameraden getötet oder verwundet wurden, ging oft mit einer tiefen, existentiellen Erschütterung der eigenen Identität einher. 59 Soldaten kamen nicht mehr lebend in die Heimat zurück, viele andere bleiben dauerhaft verwundet an Körper und Seele. Das, was die Soldaten im Einsatz erleben und erleiden mussten, prägte und veränderte häufig auch den Lebensalltag vieler Angehöriger in Deutschland. Die Umsetzung des parlamentarischen Auftrags, sich für Schwächere einzusetzen und dabei mitzuwirken, die Bedingungen für die Menschen in Afghanistan zu verbessern, hatte für zahlreiche Soldaten und ihre Angehörigen einen hohen Preis. Ihr Einsatz und ihr Engagement für Frieden, Stabilität und Gerechtigkeit verdient auch darum unbedingte Würdigung. In der Bewältigung der Folgen muss ihnen jede Unterstützung zuteilwerden, die sie benötigen. 

Seelsorge unabhängig vom Dienstgrad

Die Bilder vom Flughafen Kabul aus den Augusttagen, als viele Afghanen verzweifelt versuchten, den unmenschlichen Verhältnissen zu entkommen, sind uns allen noch sehr präsent. Soldaten mussten vor Ort miterleben, wie alles, wofür sie jahrelang eingetreten sind, in einem Desaster endete. Die Gewissheit, zahlreiche Menschen nicht weiter vor dem Zugriff der Taliban schützen zu können, bleibt für viele Soldaten eine schwere Belastung. Ging es während des Einsatzes häufig um Perspektiven, wie der einzelne Soldat die Anwendung von Gewalt mit seinem Gewissen in Einklang bringen kann, stehen sie jetzt vor der Herausforderung, das Einsatzende und die damit ebenso verbundenen individuellen Folgen zu bewältigen. Die Seelsorge bietet hierfür geschützte Räume, in denen vertrauensvolle Gespräche – unabhängig von Dienstgrad oder Disziplinarordnung – möglich sind. Diesen Refugien, in denen ausschließlich die Sorgen und Nöte der Person zählen, kommt eine bedeutende Schlüsselrolle zu. In Kabul hing am Pfarrbüro in den Anfängen des Einsatzes ein Schild „Befehlsfreie Zone“, das diese unbedingte Zugewandtheit symbolisch verdichtet in Worte fasst. 

Gewalt und Gewissensnot

Als der Einsatz mit dem Karfreitagsgefecht und den späteren Kämpfen im Jahr 2010 seine brutale Seite offenbarte, haben unsere Seelsorger viele Grenzerfahrungen erlebt, mussten Soldaten intensiv Trost spenden und mit ihnen lernen, gemeinsam mit der schrecklichen Situation umzugehen. Sie haben beigestanden, als Angehörige in der Heimat durch Vorgesetzte von deren Tod informiert wurden. Das hat sie nachhaltig geprägt und verändert. Sie redeten aber auch völlig selbstverständlich mit den Soldaten über deren Gewissensnot nach einem Gefecht, wenn sie sich fragten: „Habe ich jemanden verletzt oder erschossen, und war das gerechtfertigt?“ Für die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr ist in der Tat nämlich das Gewissen die letzte Urteilsinstanz. In dieser Gewissenerforschung steht die Katholische Militärseelsorge mit klaren Werten und Prinzipien an der Seite der Soldaten: als Ratgeber, als Diskussionspartner, als Orientierungshilfe. Schon vor dem Einsatz beginnt dieser Prozess und wird besonders intensiv, wenn die Seelsorger mit den Soldaten, die mit ihnen in den Einsatz gehen, die gleiche Ausbildung durchlaufen. Das schafft unter den Soldaten viel Vertrauen.

Der Einsatz ist beendet, die Verwundungen bleiben

Der Einsatz in Afghanistan ist formal beendet. In den Erinnerungen aber bleiben die Namen der gefallenen Kameraden präsent. Im Wald der Erinnerung in Schwielowsee bei Potsdam und am Ehrenmal in der Berliner Stauffenbergstraße wird ihrer gedacht. Ortsangaben wie Kunduz, Masar-i Sharif oder OP North bleiben auch in Zukunft mit den prägenden Erfahrungen des Einsatzes verbunden. Alle, die ihre Eindrücke noch nicht verarbeiten konnten, die an Verwundungen leiden und die seelisch verletzt sind, verpflichten uns als Katholische Militärseelsorge weiterhin dazu, unseren Dienst am Nächsten zu tun und Soldaten nach unseren Möglichkeiten in der Seelsorge das anzubieten, was sie jeweils als Person benötigen. Das ist konkrete Kirche unter den Soldaten.

Die Katholische Militärseelsorge wird die Erfahrungen des Einsatzes weiter intensiv reflektieren und weiterhin mit der Evangelischen und künftig der Jüdischen Militärseelsorge die Soldatinnen und Soldaten im Dienst und in allen Lebenslagen begleiten. Eine Präsenz bei den Soldaten ist aber nur möglich, weil die Bistümer und Ordensgemeinschaften in Deutschland großzügig geistliche und pastorale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu diesem Dienst freistellen, wofür ihnen aller Dank gebührt, weil dies ermöglicht, dass sich die Militärseelsorge weiterhin in die ethische Gewissensbildung der Soldaten und ihrer Begleitung einbringen und stets zum Wohle aller Menschen in Uniform und ihrer Angehörigen handeln kann.

Franz-Josef Overbeck
Katholischer Militärbischof für die Deutsche Bundeswehr

Franz-Josef Overbeck, Katholischer Militärbischof © KS / Doreen Bierdel
Franz-Josef Overbeck, Katholischer Militärbischof © KS / Doreen Bierdel

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