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Verletzlichkeit als Wagnis: Wie das Risiko Resilienz stärkt

„Wir müssen resilienter werden“: Seit Corona, spätestens aber seit der Zeitenwende, dürften die meisten Menschen wissen, was damit gemeint ist. Doch der Begriff Resilienz hat zwei eher unbekannte Geschwister – Vulneranz und Vulnerabilität. Was diese bedeuten und vor allem, was sie mit der Militärseelsorge zu tun haben, das erfuhren die Teilnehmenden der Gesamtkonferenz von Prof. Dr. Hildegund Keul. Deren Vortrag in Berlin widmete sich dem Thema „Verwundbarkeit, Vulneranz und Resilienz – aktuelle Herausforderungen für Militärseelsorgerinnen und Militärseelsorger.“

Vulnerabilität bezeichnet die Möglichkeit, verwundbar zu sein; Vulneranz meint die spezifisch menschliche Gewalt, die aus Angst vor Verletzung entsteht. Beides, so Keul, präge politische und militärische Strategien ebenso wie zwischenmenschliche Beziehungen.

Verwundbarkeit ist keine Schwäche, sondern eine Macht – so Keuls zentrale These. In persönlichen wie gesellschaftlichen Kontexten entfalte sie enorme Wirkung. Doch häufig werde sie unterschätzt oder verdrängt. Gerade in der Sicherheitspolitik stelle sich die Frage neu: Wann ist Schutz notwendig – und wann ist es geboten, Risiken bewusst einzugehen, um die eigene Resilienz zu stärken? Übermäßige Sicherungsstrategien, warnte Keul, könnten paradoxerweise die Verletzlichkeit erhöhen. Wer sich zu sehr abschotte, verliere Lern- und Bindungsfähigkeit – das gelte für Gesellschaften ebenso wie für Institutionen.

Mit Blick auf aktuelle Krisen – von der Pandemie über den Krieg in der Ukraine bis zur Migrationsdebatte – zeigte Keul, dass Politik und Gesellschaft oft in das „Verletzlichkeitsparadox“ geraten: Schutzmaßnahmen erzeugen neue Verwundungen. Auch die Kirche habe das erfahren, als Vertuschungsstrategien in Missbrauchsfällen das Vertrauen zerstörten. Resilienz entstehe nicht durch Abschottung, sondern durch verantwortete Offenheit – durch die Fähigkeit, eigene Grenzen zu riskieren.
Christlich gedeutet, so Keul, sei Verwundbarkeit kein Makel, sondern ein Wesensmerkmal des Menschseins – und der göttlichen Zuwendung. Die Inkarnation und das Kreuz stünden für die Bereitschaft Gottes, sich der menschlichen Verletzlichkeit auszusetzen. Wer schenkt, wer teilt, wer sich öffnet, erhöht seine Vulnerabilität – und wird dadurch resilienter. „Teilen macht reich“, zitierte Keul die spirituelle Erfahrung der Armutsbewegungen.

Für die Militärseelsorge liegt hier eine doppelte Aufgabe: Sie begleitet Menschen in realen Verwundungen – nach Einsätzen, Verlusten, Traumata – und hilft zugleich, destruktive Folgen erhöhter Verletzlichkeit zu begrenzen. Sie steht Soldatinnen und Soldaten bei, die in gefährlichen Situationen „einen Verzicht auf Leben auf sich nehmen, um Leben zu schützen“.

„Verwundbar bleiben – menschlich bleiben“, so Keuls Fazit. In einer Zeit, die Resilienz oft mit Härte verwechselt, erinnert ihre Theologie der Verletzlichkeit daran, dass wahre Stärke aus Empathie, Vertrauen und der Bereitschaft zum Risiko wächst.
 

Theo Weisenburger