„Seit einigen Tagen gehen die Bilder triumphierender Taliban-Krieger und unzähliger schockierter Afghanen um die Welt. Vielen steht pure Angst ins Gesicht geschrieben. Die Szenen am Flughafen Kabul, belagert von Menschen, deren einzige Hoffnung darin besteht, ihre Heimat noch schnell genug verlassen zu können, bedrängen. Auch mich empören das um sich greifende Leid und die Hilflosigkeit derer, denen gerade die Zukunft entrissen wird.
Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan stellt eine desaströse Niederlage der USA und der bis vor Kurzem an ihrer Seite engagierten Länder dar. Das gilt auch für Deutschland. Die jetzt eingetretene Lage zehrt das politische Vertrauenskapital der westlichen Länder auf und wird von vielen in aller Welt als moralischer Bankrott verstanden. Als vor 20 Jahren die Entscheidung für die militärische Invasion Afghanistans getroffen wurde, gab es viele kritische Stimmen zu diesem Einsatz; manches starke Argument wurde vorgebracht. Aber man konnte das militärische und das folgende militär-zivile Engagement auch mit guten politischen und humanitären Gründen verteidigen. Auch in den Kirchen gab es eine durchmischte Diskussionslage. Wie immer man dabei Partei ergriff: Nur schwer ist das abrupte Ende eines solchen Einsatzes zu begründen, wenn die katastrophalen Folgen doch absehbar waren. Man gibt kein Land an eine erwiesenermaßen brutale archaisch-radikalislamistische Bewegung preis, wenn man die Zivilbevölkerung zuvor jahrelang angespornt hat, einem entgegengesetzten zivilisatorischen Kurs zu folgen! So werden Leib und Leben Tausender und Abertausender in Gefahr gebracht und die Flamme der Hoffnung, die man selbst genährt hat, ausgelöscht. Eine Renaissance des islamistischen Terrorismus ist nicht unwahrscheinlich.
In der jetzigen Lage muss das Naheliegende getan werden, um die schlimmsten Folgen zu verhindern. Dazu gehört selbstverständlich die Evakuierung der sogenannten Ortskräfte, die für das Militär der auswärtigen Mächte – auch für die Bundeswehr – gearbeitet haben, und des Personals der internationalen Hilfsorganisationen. Großzügige Aufnahmeangebote sollten aber auch jenen gemacht werden, die in besonderer Weise gefährdet sind, Opfer des neuen Taliban-Regimes zu werden, weil sie sich in den zurückliegenden Jahren für eine Neuorientierung der afghanischen Gesellschaft exponiert haben. Und darüber hinaus: Viele verantwortliche Politiker äußern die Erwartung, dass der Umsturz in Afghanistan mit erheblichen Fluchtbewegungen einhergehen wird. Deshalb ist es unerlässlich, die Staaten in der Region, so gut es nur geht, in die Lage zu versetzen, Flüchtlinge aufzunehmen und zu versorgen. Manche, vielleicht viele Menschen werden sich auch auf den Weg nach Europa machen. Die Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Union muss dringend vertieft und verbessert werden, damit diejenigen, die ein Recht dazu haben, hier Aufnahme finden können.
Christen, ebenso wie Muslime und Juden, glauben an die Macht des Gebets. Ich lade deshalb alle ein, sich im Gebet mit den Leiden der Menschen in Afghanistan zu verbinden und Gott um seine gnädige Hilfe anzurufen.“